Ich recherchiere gerade an einer Geschichte (Nachtrag: unter anderem diese Geschichte für Deutschlandradio Wissen), wie Nerdtum, Geek-Chic und Asperger-Autismus zusammenpassen und interviewe dazu Menschen im autistischen Spektrum. Meine ursprüngliche Annahme, wonach Nerd und Asperger-Autist kategorisch gewissermaßen zusammenfallen, kann ich nicht mehr aufrechterhalten, nachdem ich gestern mit Philipp von der Linden über das Asperger-Syndrom und dessen Ausprägung gemäß gesellschaftlicher Bedingungen sprach. Er war so nett, einen Teil unseres fast dreistündigen Gesprächs zusammenzufassen, der sich um die Unterscheidung Nerd und Asperger-Autist drehte.
Dazu vorweg: Aspie ist die selbstbestimmte Selbstbezeichnung von Menschen mit Asperger, NT oder neurotypisch beschreibt Menschen, deren neurologische Entwicklung "normal" verlaufen ist. Diese Unterscheidung unterstreicht die Ansicht vieler Autisten, wonach ihr Autismus eine Variante des Menschseins ist und kein Defizit.
Philipp von der Linden, 23. Februar 2012 per Mail:
Aspies, Nerds und Selektionsdruck
Man sagt zur Zeit Shakespears mußte ein Mensch in seinem ganzen Leben nur so viel Information verarbeiten, wie gegenwärtig in einer Samstagsausgabe der New York Times zu finden ist. Mit anderen Worten heißt das, daß man heutzutage gerade mal ein Wochenende Zeit hat, wozu man an der Schwelle zu Neuzeit ein ganzes Leben lang Zeit hatte. Auch wenn dieses Beispiel wissenschaftlicher Untersuchung möglicherweise nicht ganz stand hält, so macht es doch deutlich, daß von den zur Verfügung stehenden Informationen nicht nur Segen ausgeht, sondern eine Belastung, die sich als Selektionsdruck derart bemerkbar macht, daß die Menschheit in einem Maße polarisiert wird, wie es vergangenen Epochen völlig fremd war. Dies führt dazu, daß menschliche Kategorien entstehen, deren menschliche Konstituenten zu früheren Zeiten von der Gesellschaft absorbiert worden wären, heutzutage aber sich absetzen, wie die unterschiedlich siedenden Fraktionen eines Gemenges beim Abkühlen. Wenn man sich fragt, wo all die Aspies früher waren, dann ist die Antwort: Sie waren immer da, sind nur leichter in der Menge aufgegangen als heute, weil heute der Selektionsdruck, der von der globalisierten Informationsgesellschaft ausgeht, so stark polarisiert.
Eine solche menschliche Kategorie ist der so genannte Nerd. Es handelt sich dabei aber nicht so sehr um einen Genotypus, als einen Phenotypus, der von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen begünstigt wird. Genau so, wie eine ökologischen Nische Individuen formt, die aufgrund ihrer Disposition begünstigt sind, davon zu profitieren, birgt das Nerd-Modell eine gewisse Chance für einige Aspies; es sind aber keineswegs alle Aspies Nerds oder alle Nerds Aspies.
Während der Nerd eher einer ökologischen Nische vergleichbar ist, ist der Aspie eher einer natürlichen Unterart vergleichbar. Wobei sich die Abweichungen wie eingangs beschrieben bemerkbar machen oder nicht. Wenn es für Katzen relevant wäre, welche Färbung ihr Fell hat, würden sich ganz sicher auch bestimmte Fellfarben durchsetzen; da dies nicht der Fall ist, gibt es die verschiedensten Farben parallel. Genauso ist es mit Stärken und Schwächen der individuellen, menschlichen Ausstattung. Heutzutage spielt die Fähigkeit, Informationen filtern und rasch verarbeiten zu können eine große Rolle, entsprechend werden Menschen auffällig, die damit ein Problem haben: Autisten.
Nachtrag: Im autismus.ra.unen.de-Forum gibt es eine kleine Diskussion, in der die Zuschreibung Asperger/Aspie- und Autist/Autie problematisiert wird.
Nachtrag II: Die Bezeichnung Asperger wird in der neusten, fünften Ausgabe des (amerikanischen) Diagnostic and Statistical Manual DSM-V gelöscht und geht nun im neuen "autism spectrum disorder" auf. Was das für die Aspies bedeutet, muss ich noch herausfinden.